Und wer denkt an die Kinder? – Kinderdarstellungen in Spielen

Eigentlich sind sie immer nur nervig. Oder völlig sinnfrei. Die Kinder, über die man vor allem in Rollenspielen oft stolpert, sind praktisch dialog-unfähige NPCs, die irgendwo in den Dörfern rumstehen und auf Nach-Klicken Sätze von sich geben wie „Meine Mama hat gesagt, ich darf nicht mit Fremden reden“ (Baldur´s Gate) oder sonstige immer finale Endlosschleifen.

Sprich: Oft sind sie in Spielen zwar irgendwie da, die Kinder. Wirklich handlungsrelevant sind sie aber nicht. Und: Die Darstellung von Kindern in Spielen scheint oft konstruiert. Es scheint so, als würde ein Haufen Erwachsener (Entwickler) aus ihrer, dem Kindsein völlig fremden Perspektive ein Bild konstruieren, das irgendwie dem entspricht, was wir (Erwachsenen) für die Perspektive eines Kindes halten.

Als würde einer in der Fähigkeit der Kinderempathie unterdurchschnittlich begabter Autor eine Pippi Langstrumpf erfinden, die seltsam steif und aufgesetzt kindisch wirkt. Die Kinderdarstellung in Spielen ist – im Gegensatz zu der in Literatur und Film – unterentwickelt. Muss das denn sein? Kann nicht – in Helen Lovejoys berühmter Formel aus den Simpsons – endlich mal jemand an die Kinder denken? Aber: Warum soll uns das als Spieler überhaupt kümmern?

Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?

Warum ist es überhaupt der Fall, dass Kinder in Spielen oft eindimensional dargestellt oder gleich ganz ausgeklammert werden? Sicher liegt der zurückhaltende Umgang mit Kinderfiguren in Spielen auch an bestimmten geltenden Tabus und Transgressionspotentialen, die sich durch die Einbindung von Kindern in Spielen ergeben.

Sollten Kinder in Spielen etwa getötet werden dürfen? Oder liegt hier schon ein Tabubruch vor, der unbedingt vermieden werden muss? Der Fallout-Publisher Bethesda lebt hier etwa eine klare spielmechanische – und implizit natürlich höchst moralische – Regel vor: Die Kinder in sämtlichen Rollenspielen sind ihres Zeichens unverwundbar.

Problem gelöst. Transgression vermieden. Was das für die Immersion des Spielers bedeutet, steht freilich auf einem anderen Blatt. Andere Spiele – wie GTA – machen es sich noch einfacher und verzichten ganz auf Kinder.

Die Überlegung dahinter ist offensichtlich: Die potentiellen Gefahren, Kinderfiguren in Spielen zu etablieren, scheint größer als der Nutzen. Hier muss der Entwickler bzw. der Publisher noch mehr bedenken und mögliche Stolperfallen meiden als bei den ohnehin schon zu entscheidenden Fragen zum Maß expliziter Gewaltdarstellungen.

Wo Gewalt gegen abstrahierte Figuren (Monster, Aliens und sämtliche als eindeutig moralisch böse gekennzeichnete Figuren) akzeptiert ist und auch Gewaltdarstellungen gegen menschliche Figuren weitgehend toleriert werden, ist die Wahrscheinlichkeit, beim Einbezug von Kinderfiguren in Spielen über ein Tabu zu stolpern und dem Spiel entsprechend Negativkritik einzufahren, vergleichsweise hoch.

Gemeinsam mit der offensichtlichen Annahme, dass Kinderdarstellungen den Spielen ohnehin keinen ausschlaggebenden Mehrwert bringen, ist es nur konsequent, die Thematik eben lieber auszuklammern.

Mit den Augen eines Kindes

Kein Mehrwert? Denkt man an den Stellenwert, den das Heranwachsen und all dessen Prägungen auf das Leben haben, wundert das schon. „Wenn das Erwachsenwerden einfach wäre, würde es nicht so lange dauern“, meinte Väterchen Mousekewitz zu seinem Sohn Feivel, und uns, die wir den Film Feivel der Mauswanderer damals mit großen Kinderaugen geschaut haben, war da schon klar, dass da noch ein langer Weg vor uns liegen würde.

Einer, der uns aber eben zu der Person macht, die wir dann irgendwann, wenn die Pickel weniger und die Bartstoppeln mehr werden, sind. Und so sehr wir uns als Kind die – vermeintliche – Freiheit des Erwachsenenseins auch herbei gewünscht haben, so sehr erinnern wir uns im Alter an die – wohl ebenso vermeintliche – Glücksseligkeit des Kindseins. Aber der Weg zurück in den Garten der Unschuld ist bekanntlichermaßen versperrt.

Zurück ins Paradies

Nichtsdestotrotz versuchen wir seit jeher, diesen Zustand der unschuldigen Seligkeit zu rekonstruieren. Denken wir nur an Picasso, der sein künstlerisches Schaffen der Aufgabe gewidmet hatte, einen Weg zurück in die Augen eines Kindes zu finden.

Es ist also keineswegs so, dass die Perspektive des Kindes belanglos oder gar unspektakulär wäre. Im Gegenteil: Noch der räudigste Hund in der Fußgängerzone ist für das begeisterte Kind eine Quelle grenzenlosen Abenteuers. Warum? Hier kommt das Stichwort Immersion ins Spiel.

Kinder besitzen die Fähigkeit, sich in Dinge beinahe traumwandlerisch zu vertiefen und dadurch in (Fantasie)Welten abzutauchen. Das eben entspricht dem Konzept von Spielen zutiefst. Als Spieler vor dem Bildschirm versuchen wir letztlich nichts anderes, als wieder Kind zu sein – definiert man Kindsein eben vor allem entlang des immersiven Gedankens.

Denkt jetzt jemand mal an die Kinder?

Spiele hinken hinterher, wenn es um die Darstellung von Kindern geht. Aber: Es geht auch anders. Die Darstellung von Kindern in Spielen ist nicht (nur) ein Trauerspiel und hat auch in der Spielevorzeit schon junge sympathische Helden hervorgebracht wie den tollpatschigen und vorpubertären Simon the Sorcerer der gleichnamigen Reihe oder den halbstarken Gybrush Threepwood in Lucas Arts‘ Monkey Island.

Wirkliche Tiefe oder eine persönliche Entwicklung der Figuren sucht man hier aber vergebens. Genau aber das zeichnet das Erwachsenwerden aus: Den – wie auch immer gearteten – Prozess des Erwachsenwerdens, der allzu oft lang und steinig ist.

Doch es gibt sie, die Spiele, die genau diesen Prozess in all seiner Beschwerlichkeit darzustellen versuchen. Eines davon ist sicher Square Enix‘ Life Is Strange, das den abenteuerlichen Weg der jungen Max Caulfield in US-amerikanischer High-School-Manier mit einem gehörigen Schuss Übernatürlichem erzählt.

Anna´s Quest: Coming of Age made by Daedalic

Wo Life Is Strange aber erhebliche mediale Aufmerksamkeit bekommen hat, ist ein Spiel wenig bekannt, das das Erwachsenwerden viel subtiler und mit sehr viel weniger High-School-Musical-Pathos darstellt: Anna´s Quest. Das Point-&-Click-Adventure der deutschen Spieleschmiede Daedalic Entertainment ist nur vordergründig die klassische Mär vom unschuldigen Mädchen, das mit Witz und Verstand die Katastrophe in einer Welt abwenden muss, die ihr oft feindselig gegenübersteht.

Vor allem ist es eine Geschichte über die Beschwerlichkeit des Erwachsenwerdens. Darüber, dass die kindliche Vorstellung von der Welt und die brutale Realität derselben oft auseinanderfallen. Auf ihrer Reise durch die Märchenwelt, um eine Kur für ihren an einer mysteriösen Krankheit leidenden Großvater zu finden, hilft Anna – die junge Protagonistin – wo sie kann. In ihrer unschuldigen, emphatischen Art versucht sie noch der hinterletzten Sagengestalt in Not zu helfen. Einige meinen es gut mit ihr.

Andere nicht. Und viele haben ihre eigene Agenda, manipulieren Anna zu ihren eigenen Zwecken. So hilft sie den aus ihrer Hütte vertriebenen Bremer Stadtmusikanten, nur um schließlich festzustellen, dass eine Hand eben nicht die andere wäscht und die eigene Großherzigkeit kein Garant dafür ist, auch Großherzigkeit zu erfahren.

Als Anna selbst Hilfe braucht, setzen die Stadtmusikanten sie kurzerhand vor die Tür. In ihrer Naivität wird Anna zunehmend eines besseren bzw. hier schlechteren belehrt.

Die Lektionen des Teufels

So ändert sich im Verlauf des Spiels nicht nur der Tonfall der anfangs süßlichen, naiven Mädchenstimme in Richtung einer desillusionierten, zynischen Dimension. Auch ihre Handlungen werden kompromissloser. Die Welt lehrt Anna das Auge um Auge. Mit dem Verlust ihrer Unschuld werden auch Annas Handlungen moralisch zweifelhafter.

Und es stellt sich heraus, dass auch ihre gutgemeinten, oft unüberlegten Handlungen schlechte Konsequenzen gezeitigt haben. Wie es eben bekanntlich so ist: The road to hell is paved with good intentions. Am Ende landet sie sogar wortwörtlich in der Hölle, wo ihr der Teufel selbst die eigene Unzulänglichkeit vorhält: „Haven´t you been a little too trusting?“ Anna´s Quest ist ein Coming-of-Age-Spiel, das in seiner Ehrlichkeit beinahe schon schmerzt.

Es greift die Einfachheit des Kindes auf, in dessen Welt zunächst alles schwarz und weiß, gut und schlecht ist, in der es keine Graustufen gibt, in der es aus dem Wald herausschallt, wie man hineinruft – und zersetzt sie Stück für Stück.

Bis Anna schließlich gezwungen ist, sich von den als ultimativen Wahrheiten begriffenen Regeln ihres Großvaters und der sie umgebenden Erwachsenenwelt zu lösen, und ihren ganz eigenen Weg selbstverantwortlich gehen muss – und auch selbst verantworten muss. Kurz: Die Emanzipation des Kindes par excellence.

Angst fressen Seele auf: Fran Bow

Während Anna´s Quest den Prozess des Erwachsenwerden einfängt, blickt das Indie-Adventure Fran Bow (Killmonday Games) in Abgründe eines gesellschaftlichen Tabus: Die gleichnamige kindliche Helden rätselt sich durch eine Nervenheilanstalt für Kinder und kann sich mithilfe rätselhafter Pillen in eine alptraumhafte Parallelwelt versetzen.

Wo in einem Moment noch apathische Kinder in trostlosen Schlafsälen sitzen, kauern in der Alternativversion der Realität geisterhafte Wesen neben und hinter den Kindern, die sich von den Ängsten der Kinder ernähren und diese zugleich personifizieren.  Wir treffen einen Jungen, hinter dem eine schattenhafte Gestalt auf dem Bett sitzt, und aus den Gedankenfetzen der Gestalt können wir uns nach und nach zusammenreimen, dass der Junge wohl von einem Familienangehörigen sexuell missbraucht wurde.

Wenig später stoßen wir auf einen Wärter, der uns verspricht, er helfe uns die zum Fortkommen notwendige Tür zu öffnen, wenn wir uns im Gegenzug kurz auf seinen Schoß setzen.

In all diesen Interaktionen lässt Fran Bow mehr Leerstellen, als es klare Aussagen trifft. Andeutungen, die zunächst harmlos klingen, dann aber in Unaussprechliches kippen. Fran Bow hat es nicht nötig, seine Andeutungen vollständig auszusprechen. Den Rest können wir uns selbst zusammenreimen. Und uns als Spieler wird schlecht dabei.

Genau diese Gratwanderung am Rande des Tabubruchs macht das Spiel herausragend. Obwohl es strenggenommen innerhalb der Grenzen des Tabus Kindesmissbrauch bleibt – nichts wird ausgesprochen, alles nur angedeutet – weist es über diese hinaus. Und rückt dadurch eine Thematik ins Bewusstsein, die, wenn auch tabuisiert, doch oft schreckliche Realität ist.

Das kriechende Grauen: Among the Sleep

Es gibt also Spiele, denen es durchaus gelingt, den Prozess des Erwachsenwerdens anschaulich darzustellen – wie Anna´s Quest. Und es gibt Spiele, die sich explizit mit Themen und Tabus beschäftigen, die Kinder betreffen – wie Fran Bow. Die meisten Spiele stellen dennoch Kinderfiguren ins Zentrum, die alt genug sind, um reflektieren zu können. Gerade für storylastige Spiele ist das freilich naheliegend. Kleinkinder können schlecht Dialoge führen und die Handlung vorantreiben.

Sie sind hilflos, ungelenk und (noch) sprachlos. Wer will schon einen solchen Helden spielen? Nun, das Horror-Adventure Among the Sleep (Krillbite) wagt genau das. Hier steuern wir einen kleinen Jungen im Strampelanzug, der sich durch albtraumhafte Welten seines nächtlichen Zuhauses schlagen muss.

Das Ziel: Seine Mama finden. Die ist nämlich plötzlich weg. Simpel genug. Denkt man.

Aber die Perspektive des Kleinkindes lässt uns Survival-Horror mal ganz anders erleben. Wir können nur ein paar Schritte aufrecht gehen, schon laufen wir Gefahr, umzukippen. Dann können wir uns nur noch kriechend durch dunkle Kleiderschränke und verschachtelte Gänge bewegen.

Alles wirkt riesenhaft, jede Türklinke ist eine Herausforderung, die weit über unserem kleinen Kopf thront. Den Monstern, die uns folgen, haben wir nichts entgegenzusetzen außer einer robbenden Flucht, nur der treue Teddybär an unserer Seite gibt uns Kraft und hilft uns durch die dunkelsten Momente – wenn wir ihn umarmen.

Among the Sleep gelingt es meisterhaft, die Perspektive eines Kleinkindes einzufangen, das in einer Welt voll riesenhafter Hindernisse der Alice im Wunderland gleicht, die den falschen Keks geschluckt hat und zum Zwerg wurde. Among the Sleep ist eine spielerische Parabel auf das Kindsein, als die Welt noch bedrohlich und faszinierend zugleich war und als es noch geholfen hat gegen alle Monster unterm Bett, wenn man den Teddybär nur fest genug drückt.

Was kümmern uns die Kinder?

Aber warum das Ganze? Was kümmern uns als Spieler die Kinder? Sicher, der formale Aspekt – wie oben beschrieben – liegt nahe: Wenn Kindsein maßgeblich durch Immersion geprägt ist, dann haben Kindsein und Spielen viel gemeinsam.

Nicht umsonst, sprechen wir von Spielen. Kinder und Spiele teilen aber nicht nur diesen „formalen“ immersiven Aspekt. Wenn es um Kinder geht, gilt eines ganz grundlegend: Wir alle waren bzw. sind betroffen. Entweder, weil wir selbst einmal Kinder waren oder weil wir vielleicht schon selbst welche in die Welt gesetzt haben.

Vor allem aber, weil wir betroffen sind durch die Tatsache, dass Kinder unser aller Zukunft sind. Das klingt nach Birkenstock und Haschischpflänzchen im Wintergarten, ist aber schlicht der Fall. Die nach uns kommenden Generationen, also die Kinder von heute und morgen, sind die, die uns in Altersheimen pflegen oder auf der Straße verhungern lassen können, die die Erde kaputter oder gesünder machen und Gesellschaften gerechter oder ungerechter.

Kurzum: Das in vielen Spielen gezeichnete Bild vom Kind, das im Dorf XYZ herumsteht und in Endlosschleife parliert, seine Mama hätte ihm verboten, mit Fremden zu sprechen – Punkt, trifft die Relevanz von Kindern in der Realität überhaupt nicht.

Wer wie was warum – wer nicht fragt…

Diese andere, uns Erwachsenen so fremd gewordene Perspektive, ist nicht nur relevant, weil sie ganz andere Blickwinkel auf die Welt gewährt, weil Kinder Dinge schlicht anders sehen. Dieses Sehen-mit-anderen-Augen eröffnet neue Dimensionen von Fantasie und Kreativität.

Es bringt uns vielleicht, nur vielleicht, für einen Moment zurück in den seligen Zustand der Unbedarftheit, die Glücksseligkeit bedingt. Das ist das eine. Das andere ist: Kinder gehen uns alle an. Deshalb sollten Kinder Thema sein.

Auch in Spielen. Deshalb müssen Tabus gebrochen werden, wo Kinder Missbrauch und Leid ausgeliefert sind – wie etwa in Fran Bow. Deshalb thematisieren Spiele wie This War of Mine: The Little Ones ausdrücklich die Situation von Kindern in Kriegsgebieten. Die Darstellung von Kindern in Spielen wird der Relevanz von Kindern für unsere Realität (noch) nicht gerecht.

Wenn Spiele als Medium aber ernst genommen werden wollen, muss genau das geschehen. Also, Zeit wird´s: Denkt jetzt endlich jemand an die Kinder?

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